Die Geschichte meiner Großeltern


 Die Geschichte meiner Großeltern

Es war das Jahr 1974. Ich war erst anderthalb. Meine Mutter, ich und meine ein Jahr ältere Schwester waren zum ersten Mal in Berlin. Mein Opa hatte in der Schloßstraße in Tegel eine Zweizimmerwohnung im Dachgeschoss.  Da wohnte außer meinem Opa noch meine Oma, meine Tante, mein Onkel und mein Vater. Opa ist leider zu früh gestorben und mein Deutschlandgeschichte war erstmal zuende, denn meine Oma wollte ohne meinen Opa nicht mehr in Berlin bleiben. Und da sie in der Türkei nicht mutterseelenallein bleiben wollte, nahm sie mich mit. Sie hatte mich ausgewählt, weil (das ist meine Hypothese) ich sehr ruhig war und meine Schwester ständig heulte (sie ist immer noch so und ich bin ganz das Gegenteil).

Von da an war die Geschichte meines Opas beendet und meine Geschichte als Kofferkind fing an, aber irgendwie blieben unsere Geschichten miteinander verflochten. Meine Oma erzählte immer sehnsüchtig von meinem Opa. Er war unser Held. Immerhin hatte er es geschafft, in seinem kurzen Leben ein Haus in der Heimat zu bauen, mit großem Garten, mit Obstbäumen, Rosensträuchern und Ranken aus Heckenkirschen … Meine Kindheit in diesem idyllischen Garten war traumhaft und die glücklichste Zeit in meinem Leben. Von den Wohnzimmermöbeln, dem Fernsehschrank und der Musiktruhe bis zu dem Madonnenbild an der Wand sah unser Wohnzimmer wie aus einem deutschen Versandhauskatalog entsprungen aus.  Einen solchen Katalog gab es auch noch, wir haben ihn lange Jahre aufbewahrt, so in etwa wie ein heiliges Buch, das keiner anfassen durfte, genauso wie eine Puppe mit blauen Augen und hellblonde Locken, die auf der Vitrine thronte und von oben auf uns herabschaute.

Meine Oma war eine sehr hübsche Frau, als sie jung war, und mein Opa ähnelte auf den Fotos einem Hollywoodstar jener Zeit. Oma hatte im Schrank hübsche knielange Kleider, Miniröcke und schicke engen Blusen von früher. Die konnte sie in unserer Wohngegend nicht mehr anziehen. Ich verkleidete mich mit ihren Sachen und schlüpfte damit in eine andere Welt. Sie lächelte nur. Im Schrank gab es noch ein dickes Fotoalbum aus der Deutschlandzeit und viele Schallplatten. Mein Opa hörte gern türkische Musik.

Er war ein begabter Schreiner in unserem Dorf. Sogar einen Couchtisch hatte er selbst entworfen, jedes Tischbein ähnelte einem Frauenbein. Als derart talentierter Mensch musste er bei Thyssen schwere Arbeit in der Gießerei leisten. In meiner Jugend und auch später in Deutschland erzählte mir jeder, der meinen Opa gekannt hatte, bewundernd kleine Anekdoten über ihn. So hat er mich viele lange Jahre begleitet. 

Ich hatte immer geglaubt, dass Oma und Opa ein Traumpaar waren, weil Oma immer voller Gefühl und Sehnsucht über ihn sprach. Viele Jahre später erzählte mir eine redselige Cousine, dass mein Opa eine Geliebte gehabt hatte, eine gewisse Frau Schmidt, die damals in der Schloßstraße einen Kartoffelladen besaß. Ich fiel aus allen Wolken, mein Kindheitstraum war zerstört. Mit diesen Enthüllungen aus unserer Familiengeschichte kam ich erstmal nicht klar. Vermutlich hatte sich mein Opa so ganz ohne Frau und Kinder und ohne weitere Verwandte sehr einsam gefühlt und fand Trost bei einer anderen Frau. Die Cousine sagte noch, dass damals viele türkische Männer solche Affären gehabt und uneheliche Kinder gezeugt hätten. Sie taten es aber heimlich, nur mein Opa hätte seine Liebe offen gelebt bis meine Oma nach Deutschland kam.

Endlich konnte ich mich mit der Geschichte abfinden, da ich begriffen hatte, dass mein Opa Frau Schmidt wirklich gern hatte. Er war ein ehrlicher Mann und Heimlichtuerei war ihm fremd. Alles passte so gut zueinander, dass es keine Lücke mehr in der Familiengeschichte gab.

Vielleicht wünschte sich mein Großvater, als er nach Deutschland kam, eine neue Welt zu erobern, wer weiß? Er hat nur die Möglichkeit benutzt, um für das Wohlergehen seiner Familie zu sorgen.

Eine liebe halbgriechische Freundin hat neulich von ihres Papas Hausregel erzählt: 

"Ein Drittel Gastarbeiter geht wieder zurück. 

Ein Drittel geniess das Leben und fühlt sich wohl hier.

Und ein Drittel wird unglücklich..."

Ich habe mir Gedanken gemacht: Zu welchem Drittel sollte mein Großvater gehören? 

Ich selbst erinnere mich nicht mehr an ihn, aber ich habe von vielen Bekannten und Freunden vieles über ihn gehört. Deshalb denke ich, er war hier doch glücklich. Er hat es immerhin in seinem kurzen Leben geschafft, in seiner türkischen Heimat ein Haus zu bauen, was er sich so sehr gewünscht hat. 

Ich wohne und lebe immer noch in der gleichen Gegend. Jedes Mal, wenn ich an dem Haus in der Schloßstraße, in dem meine Großeltern damals gelebt hatten, vorbeigehe, schaue ich nach oben zum Dachgeschoss, in der Hoffnung, jemanden zu erblicken. Wer dort jetzt wohnt, weiß ich nicht. Aber die ganze Geschichte gibt mir Halt und Trost. Meine Vorfahren haben ihre Spuren in der Gegend hinterlassen, in der ich gerne lebe. Dadurch fühle ich mich zuhause und nicht, als ob ich tausende von Kilometern fern der Heimat wäre. Seit über 60 Jahren haben wir eine Geschichte in Deutschland, über mehrere Generationen verteilt. Es gibt noch vieles erzählen und es wird noch viel passieren. Die Geschichte geht weiter.

 

Defne Seidel

09.06.2021


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